16 DAYS OF ACTIVISM: AZAM AHMADI

Azam Ahmadi – Rechtsanwältin und Aktivistin
Übersetzung von Dominique Renault, Themenkoordinationsgruppe Menschenrechtsverletzungen an Frauen

Azam Ahmadi ist Rechtsanwältin und Aktivistin der Zivilgesellschaft. Juristinnen können unter den Taliban nicht als Anwältinnen arbeiten. Sie haben ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt verloren. Viele sind im Zusammenhang mit Fällen, an denen sie früher gearbeitet haben, mit Gewalt bedroht worden. Sie laufen Gefahr, Ziel von Vergeltungsangriffen derjenigen zu werden, die zuvor inhaftiert waren, aber während der Machtübernahme der Taliban freigelassen wurden. Anwältinnen, die weibliche Opfer häuslicher Gewalt vertreten haben, haben berichtet, dass sie Drohungen von den Ehemännern oder Familien ihrer Klientinnen erhalten haben.

Ich bin Rechtsanwältin und war seit 2015 aktives Mitglied der afghanischen Anwaltskammer. Seitdem habe ich viele Fälle vor den afghanischen Gerichten verteidigt. Im Jahr 2017 gründete ich meine eigene Nichtregierungsorganisation mit dem Namen Voice of Law and Welfare Organization. Ich arbeitete als Pro-bono-Anwältin für Frauen und Mädchen, die Opfer von häuslichem Missbrauch und anderen Formen von Gewalt waren. In einigen Fällen vermittelte ich sie an Schutzzentren und Zufluchtsorte und verfolgte dann ihre Fälle während des gesamten Prozesses und vertrat sie bei Gerichtsverfahren.

Unsere Nichtregierungsorganisation arbeitete auf freiwilliger Basis; viele Anwälte arbeiteten unentgeltlich mit uns zusammen und übernahmen fünf bis zehn Fälle pro Jahr, die meisten davon betrafen Frauen. Zwischen 2017 und 2021 arbeitete meine NRO an mindestens 300 Fällen von Gewalt gegen Frauen.

Seitdem die Taliban die Kontrolle über das Land übernommen haben, hat sich für uns alles verändert. Ich fühle mich wie in einem Gefängnis. Selbst Gefangene haben Rechte, aber nicht die Frauen unter den Taliban. Ich habe das Gefühl, dass alles, was ich in den letzten 16 Jahren getan und verdient habe, ein Traum war, und jetzt bin ich in der Realität aufgewacht, in der ich unter den Taliban lebe, in einer Realität, die sich für mich nicht wahr anfühlt. Ich fühle mich nutzlos und dieses Gefühl der Leere und Wertlosigkeit wird uns von den Taliban vermittelt. Sie betrachten uns nicht einmal als einen halben Menschen. Ich frage mich oft: Was haben wir getan, um diese Situation zu verdienen? Warum müssen die afghanischen Frauen so viele Einschränkungen hinnehmen? Was haben die Frauen den Taliban angetan, um eine solche Bestrafung zu verdienen? Ich habe so viele Fragen, und ich finde keine Antworten darauf.

Seit die Taliban wieder an der Macht sind, haben sie Tausende von Gefangenen und verurteilten Verbrechern freigelassen und uns das Leben schwer gemacht. Wir erhalten Todesdrohungen; wir werden von den Taliban vorgeladen und sie betrachten uns als Feind und als jemanden, der hart bestraft werden muss. Wegen der Todesdrohungen musste ich meine Telefonnummer und meinen Wohnort wechseln und schließlich meine Konten in den sozialen Medien deaktivieren. Wegen der Todesdrohungen musste ich mein Büro schließen und konnte nicht einmal meine persönlichen Sachen abholen. Ich habe meinen männlichen Kollegen gebeten, dies für mich zu tun. Als Strafverteidigerin habe ich anderen Menschen geholfen, Zugang zur Justiz zu erhalten. Jetzt kann ich nicht einmal meine eigenen Grundrechte verteidigen und habe selbst keinen Zugang zur Justiz. Ich kann nicht einmal mein Recht auf Arbeit verteidigen. Das schmerzt mich sehr. Es handelt sich nicht nur um Diskriminierung, sondern um eine systematische Verletzung der Rechte der Hälfte der Bevölkerung und um geschlechtsspezifische Gewalt.

Die internationale Gemeinschaft kann selbst sehen, dass all unsere Errungenschaften der letzten 20 Jahre nicht mehr vorhanden sind, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit existiert nicht mehr. Die internationale Gemeinschaft muss sich mit dem afghanischen Volk solidarisch zeigen. Sie muss den Taliban sagen, dass sie isoliert sein werden, wenn sie keine integrative Regierung bilden, in der die Rechte aller Afghanen aller Ethnien, Sprachen und Geschlechter geachtet und geschützt werden.

 

Quelle:
AI-Bericht „They are the revolution. Afghan women fighting for their future under rule of the taliban (ASA 11/4968/2021 vom 25.11.2021)

 

Informationen:
www.amnesty.org
www.amnesty.de
www.amnesty-frauen.de

Kontakt:
Themenkoordinationsgruppe Menschenrechtsverletzungen an Frauen, info@amnesty-frauen.de
Länderkoordinationsgruppe Afghanistan, info@amnesty-afghanistan.de

9. Dezember 2021