16 DAYS OF ACTIVISM: FAWZIA AMINI

Fawzia Amini – hochrangiges Mitglied der Justiz
Übersetzung von Dominique Renault, Themenkoordinationsgruppe Menschenrechtsverletzungen an Frauen

 

Fawzia Amini ist ein hochrangiges Mitglied der Justiz, das zahlreiche hochrangige Ämter im afghanischen Rechtssystem bekleidet hat. In den letzten Jahren sind mehrere Richterinnen bei mutmaßlichen Anschlägen der Taliban getötet worden. Seit die Taliban die Kontrolle über die Regierung übernommen haben, können Richterinnen nicht mehr arbeiten, und das Schicksal des gesamten Rechtssystems steht auf dem Spiel. Mehrere Richterinnen sind aus dem Land geflohen, andere sind untergetaucht. Die Richterinnen verlieren nicht nur ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt, sondern sind auch der Gefahr von Vergeltungsangriffen derjenigen ausgesetzt, die sie in der Vergangenheit inhaftiert haben und von denen viele während der Machtübernahme durch die Taliban freigelassen wurden oder entkamen.

Ich war bis zur Machtübernahme durch die Taliban am 15. August als hochrangige Richterin am Obersten Gerichtshof von Afghanistan tätig. Ich war Mitglied des Obersten Justizrates und Leiterin des Gerichts für Gewalt gegen Frauen (VAW Court), das sich speziell mit Fällen von Frauen befasste. Davor war ich auch Leiterin der Rechtsabteilung des Ministeriums für Frauenangelegenheiten.

Ich habe über 20 Jahre lang in leitenden Positionen der Regierung gearbeitet. Meine größten Erfolge waren, dass ich Mitglied des Ausschusses für die Ausarbeitung des Gesetzes zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, des Familiengesetzes und der Vorschriften für Schutzzentren für gefährdete Frauen war. Außerdem arbeitete ich an den Artikeln 22 und 45 der afghanischen Verfassung und an der Reform des schiitischen Personenstandsgesetzes. Ich habe eng mit dem Justizministerium zusammengearbeitet, um Gesetze aus der Geschlechterperspektive zu überprüfen und sicherzustellen, dass die Rechte der Frauen so weit wie möglich geschützt werden. Außerdem habe ich Hunderte von Schulungen zum Kapazitätsaufbau in Rechtsfragen durchgeführt, auch zu afghanischen Gesetzen und Vorschriften, die direkt oder indirekt mit Frauen zu tun haben.

In den letzten 10 Jahren war ich an der Berichterstattung über den Stand der Umsetzung der internationalen Konventionen beteiligt, denen Afghanistan beigetreten ist. Ich habe auch an den informellen Justizmechanismen gearbeitet, um sicherzustellen, dass sie die Rechte von Frauen und Mädchen achten und schützen. Darüber hinaus habe ich als Richterin sowohl an Zivil- als auch an Strafgerichten gearbeitet.

Als die Taliban im August 2021 die Kontrolle über Afghanistan übernahmen, war ich schockiert und wie betäubt. Ich sah einen Albtraum und konnte nicht glauben, was um mich herum geschah. Ich sah meine 20 Jahre harter Arbeit, Ausbildung und Berufserfahrung in Sekundenschnelle vor meinen Augen verschwinden. Der Moment, in dem ich sah, wie die Taliban die Kontrolle übernahmen, war der schwerste Moment meines Lebens. Ich wusste, dass für mich und Millionen von afghanischen Frauen nichts mehr so sein würde wie vorher.

Wie Hunderte von Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten musste ich untertauchen; Tausende von Kriminellen wurden freigelassen und sie stellen eine ernsthafte Bedrohung für uns dar. Wie andere Richter erhielt auch ich Morddrohungen und wir verloren sogar das Schutzsystem, das wir unter der vorherigen Regierung hatten. Viele der Kriminellen, die wir strafrechtlich verfolgt hatten, sind jetzt für das System verantwortlich. Wir wissen nicht, wie die Zukunft für mich und meine Familie aussehen wird.

Schon bevor sie die Kontrolle über das Land übernahmen, erhielt ich Dutzende von Drohungen von den Taliban. Viele Richter und Staatsanwälte wurden ins Visier genommen und gewaltsam getötet. Damals gab es wenigstens eine Regierung, die wir um Schutz bitten konnten – das ist jetzt nicht mehr der Fall.

Seit die Taliban die Kontrolle übernommen haben, scheinen Kriminelle frei herumzulaufen und die Richter wie Gefangene zu leben. Unsere Konten sind eingefroren, und wir haben keinen Zugriff auf unsere Gehälter und unser eigenes Geld. Die Taliban haben die Diskriminierung von Frauen institutionalisiert; sie verweigern uns unsere Grundrechte wie das Recht auf Bildung, das Recht auf politische Beteiligung und das Recht auf Arbeit. Sie verweigern uns jedes einzelne Recht, das uns der Islam und unsere Verfassung zugestehen. Sie wollen die Frauen aus der Gesellschaft auslöschen und uns alle zu Gefangenen in unseren eigenen Häusern machen. Sie wollen uns nirgendwo anders sehen als in unseren Häusern.

Außergerichtliche Tötungen, willkürliche Verhaftungen und Rachemorde sind jetzt an der Tagesordnung und wir wissen nicht, nach welchem Gesetz sie vorgehen. Was jetzt geschieht, steht in völligem Widerspruch zu dem, was unsere früheren Regierungen nach 2001 getan haben.

Die systematische Diskriminierung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts ist weit verbreitet und in der Politik der Taliban verankert. Die Taliban haben das Ministerium für Frauenangelegenheiten aufgelöst und erpressen nun die internationale Gemeinschaft, indem sie die Rechte der Frauen als Druckmittel einsetzen.

Die internationale Gemeinschaft muss sehr vorsichtig sein, um den Taliban keine internationale Anerkennung zu geben. Sie muss den Taliban sagen, dass es keine “geschlechtergetrennte Gesellschaft” geben kann und dass sie eine integrative Regierung haben müssen. Frauen müssen in verschiedenen Bereichen der Regierung und des Privatsektors eine Rolle spielen. Wenn Frauen Teil der Gesellschaft sind, kann die Entwicklung viel schneller voranschreiten als in Gesellschaften, in denen Frauen die Teilnahme verwehrt wird.

 

Quelle:
AI-Bericht „They are the revolution. Afghan women fighting for their future under rule of the taliban (ASA 11/4968/2021 vom 25.11.2021)

Informationen:
www.amnesty.org
www.amnesty.de
www.amnesty-frauen.de

Kontakt:
Themenkoordinationsgruppe Menschenrechtsverletzungen an Frauen, info@amnesty-frauen.de
Länderkoordinationsgruppe Afghanistan, info@amnesty-afghanistan.de

30. November 2021